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Medienanalyse zum Selbstbestimmungsgesetz: Jugendschutz unterbelichtet

ARD-Tagesthemen u.a.[1], vom 23. August 2023


Das Bundeskabinett hat am 23. August 2023 seinen Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt. R21 hat dazu eine Tagesanalyse der reichweitenstärksten Medienformate des ÖRR vorgenommen. Auffällig: Die Schutzbedürftigkeit Minderjähriger und der Wegfall der psychologischen Beratungspflicht für eben diese junge Zielgruppe wird selten thematisiert. Untersucht haben wir zehn nachrichtliche Formate aus ARD, ZDF und dem Deutschlandfunk vom 23. August 2023[1].


Folgende Aspekte der Diskussion werden in den Formaten aufgegriffen:

  1. Selbstbestimmungsargument: Der neue Gesetzentwurf löst einen bislang aufwändigen und kostenintensiven Prozess der „Zwangsbegutachtung“ ab.

  2. Schutzraumargument: Schutzräume bspw. von Frauen (Saunen, Frauengefängnisse etc.) könnten gefährdet sein.

  3. Argument gegen strafrechtlichen Missbrauch: Der Gesetzentwurf eröffnet die Möglichkeit, sich durch Namensänderung der Strafverfolgung zu entziehen.

  4. Schutzbedürftigkeitsargument: Die Abschaffung der Beratungspflicht gefährdet die psychosoziale Entwicklung Minderjähriger.

Folgende Live-Interviewpartner wurden in sechs der zehn Formate live befragt:

  • Kalle Hümpfner, Bundesverband trans* (ZDF-Heute Interview im Beitrag)

  • Tessa Ganserer, MdB B90/DIE GRÜNEN (ZDF-Update Interview)

  • Sven Lehmann, Queer-Beauftragter der Bundesregierung von B90/DIE GRÜNEN (ARD-Tagesthemen Interview)

  • Marco Buschmann, Bundesjustizminister FDP (DLF-Interview am Morgen)

  • Julia Monro, Beraterin und Referentin für geschlechtliche Vielfalt (DLF-Interview Podcast „Der Tag“)

  • Antje Schrupp, Politikwissenschaftlerin, Feministin, Autorin (DLF-Interview „Fazit“)

Alle Sendungen greifen das Selbstbestimmungsargument als Kern des Gesetzentwurfs auf, der bürokratische und emotionale Hürden zugunsten der Selbstbestimmung abbaut. In den meisten Formaten wird dies neutral berichtet. Die Tagesthemen stechen heraus. Caren Miosga moderiert den Tagesthemen-Beitrag an: „Wenn sie [i.e. transgeschlechtliche Menschen] ihren Geschlechtseintrag ändern wollen, werden sie vom Staat bislang noch behandelt, als wären sie krank.“ Dies wirkt gerade deshalb sehr drastisch, weil im darauffolgenden Beitrag eine Trans-Frau zu Wort kommt, die – bei aller Kritik – zu bedenken gibt, ihr habe das bisher geltende Verfahren geholfen sicher zu sein, dass sie das alles wirklich wolle. Das ist eine durchaus differenzierte Perspektive einer Betroffenen, die im Bericht abgebildet, aber leider nicht näher reflektiert wird.


Das Schutzraumargument wird ebenfalls vielfach aufgegriffen – teilweise durch einfache Nennung als kontroverser Diskussionspunkt. Vielfach aber auch mit klarem Deutungsschema: Es handele sich um eine "Scheindebatte" (Antje Schrupp im DLF-Fazit) und stelle Transmenschen unter Generalverdacht, die Schutzbedürftigkeit Anderer, etwa in Frauensaunen, nicht zu respektieren (Julia Monro in DLF-Der Tag, Sven Lehmann in den ARD-Tagesthemen).


Das Argument gegen strafrechtlichen Missbrauch durch Kriminelle greifen wenige Formate auf. Im DLF-Interview klassifiziert Marco Buschmann den Fall etwa als „pathologische Fantasie“, Tessa Ganserer im ZDF-Update als „Eventualität“ und „Schreckgespenst“.


Auffallend selten bzw. oberflächlich wird das Schutzbedürftigkeitsargument behandelt. Als Kernkritik der CDU wird es zwar genannt. Eine tiefere Auseinandersetzung erfolgt nicht – mit Ausnahme des Deutschlandfunks, der in den Informationen am Mittag und Abend den kritischen Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Alexander Korte zu Wort kommen lässt. Er sagt, die Selbstdiagnose ,trans‘ stelle sich im Entwicklungsverlauf nicht Weniger nachträglich als Fehleinschätzung heraus. Im Gegensatz zur fachmännischen Sicht wiegelt Sven Lehmann in den Tagesthemen die Gefahr mit Verweis auf subjektive Erfahrungen ab: Er habe überall erlebt, dass transgeschlechtliche Jugendliche sehr genau wüssten, wer sie seien. Miosga fragt nicht weiter nach.


Wir fragen: Es gibt unterschiedliche Positionen zum Reformierungsbedarf des aktuell gültigen Transsexuellengesetzes. Die Schutzbedürftigkeit Jugendlicher etwa ist das zentrale Anliegen der Opposition. Trotzdem verfallen die öffentlich-rechtlichen Medien in eine Bestätigungstendenz zum aktuellen Kabinettsentwurf. Erkennbar ist diese Tendenz einerseits an der Auswahl der Gesprächspartner, die alle den Gesetzentwurf ausnahmslos befürworten; andererseits daran, dass gewisse Narrative einseitig beleuchtet (Schutzraumargument) oder oberflächlich behandelt werden (Jugendschutz). Warum also bleibt der Aspekt der Schutzbedürftigkeit gerade in den Hauptnachrichten von ARD und ZDF derart unterthematisiert und unhinterfragt, obwohl er der Hauptkritikpunkt am Gesetzentwurf ist? Warum ist darüber hinaus die Auswahl an Live-Gesprächspartnern politisch derart einseitig?


Wir fordern: Die Auswahl der Interviewpartner bestimmt die Lesart politischer Kontroversen. Allein in unserer Tagesanalyse zählen wir fünf von sechs Interviewpartnern, die aus dem grünen und/oder queeren Milieu stammen. Dazu Marco Buschmann, der den Gesetzentwurf mitverfasst hat. Es kommt in den Live-Interviews keine Stimme der Opposition zu Wort, geschweige denn medizinische Fachexperten, wie etwa Kinder- und Jugendpsychiater. Damit präsentieren die Hauptnachrichten eine Akklamation des Gesetzes. Wünschenswert wäre, wenn zumindest eine der großen Hauptnachrichtensendungen in ARD oder ZDF im Live-Interview eine Gegenperspektive ermöglicht. Dies würde nicht nur den Erkenntnismehrwehrt und die Urteilsbildung des Zuschauers steigern, sondern machte ARD und ZDF wieder unterscheidbar und unentbehrlich.


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